Ozan Ata Canani
Warte mein Land, warte
LP
Das Leben? Ein langer schmaler Pfad. Sonst noch was? Ja: Menschen und Musik. Das war's, aber immerhin. Schmaler als für Ozan Ata Canani wird’s allerdings kaum. Ich habe mich all die Jahre gefragt: Womit hat er das verdient, dass seine Kunst so ignoriert wird? Der jugendliche Ata war ein Wunderkind an der Bağlama, der anatolischen Langhalslaute. So gut, dass ihn der große Aşik Mahzuni Şerif mit auf Tournee nahm. Da war Ata gerade dreizehn. Ata's Vater war das suspekt, er verbot ihm das Musizieren. Der junge Erwachsene Ata schrieb in den späten Siebzigern den ersten Liedzyklus anatolischer Musik in deutscher Sprache. Er wollte ankommen, in Deutschland leben und in Kommunikation mit der Mehrheitsgesellschaft treten. Er wollte hörbar machen, was alles schief läuft. Überstrahlt wurde die Klage nur von Ata's ansteckendem Optimismus. Seine Musik ist eine Reise, die ihrer Hörer:innen mitnimmt. Damit war er seiner Zeit offenbar voraus, denn niemand wollte diese Lieder veröffentlichen. Sie fanden keine Lobby. Die Utopien der deutschen Achtundsechziger dachten die sogenannten Gastarbeiter sowie ihre Kunst & Kultur nicht mit — daher fand Ata's Elterngeneration keinen Anschluss im Land. Die meisten von ihnen wollten nach getaner Arbeit wieder in die Heimat. Wozu also Brücken bauen zum Land der Mundinnenraumvermesser und der schreihalsigen Vorarbeiter? Die anatolische Bevölkerung Deutschlands hatte eine eigene großartige Struktur der Musikverbreitung geschaffen. Sie war nicht angewiesen auf den Rundfunk und die Kaufhäuser. Sie hatte ihre eigenen Läden, überall. Unbemerkt von der deutschen Musikindustrie und den hiesigen Medien setzten Firmen wie Türküola in Köln oder Uzelli in Frankfurt jedes Jahr Millionen Tonträger um. Türküola ist das erfolgreichste Independent-Label der Nachkriegsgeschichte. Die Schallplatten und Kassetten, später CDs, gingen in eigenen Geschäften über die Tresen, in Gemüsemärkten und Elektronikhökern in Bahnhofsnähe. Das Nebeneinander der Musiken ist ein Sinnbild für das Nebeneinander in der Gesellschaft. Der junge Ata hat das Miteinander erfunden, aber mehr als ein kleine Gesten sprangen nicht heraus. Immerhin trat Ata mit einem Lied bei Alfred Biolek im Fernsehen auf. Eine VHS-Überspielung des Auftritts fand ihren Weg zu Youtube: Es ist Ata's Jahrhundertlied „Deutsche Freunde“ und erscheint aus heutiger Sicht wie eine Prophezeiung: „Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten — Ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“. Es beschreibt in einem Kondensat an Worten einen Gefühls- und Geisteszustand, der auch sechzig Jahre nach dem „Gastarbeiter-Anwerbeabkommen“ so vieles prägt: Debatten, Skandale, Diskurse und den Alltag vieler Menschen.
Deutsche Freunde erschien auf der sagenhaften Compilation „Songs Of Gastarbeiter“. Das war 2014. Die Initiatoren Bülent Kullukçu und Imran Ayata wollten es nicht bei dem leiernden Youtube-Clip belassen. Sie überzeugten Ata, mit seiner alten Crew ins ein Studio zu gehen. Seitdem kennen wir Ata Abi und all die anderen sagenhaften Lieder. Was damals niemand veröffentlichen wollte liegt jetzt vor Dir: eine poetische Vision der Zukunft — aus der Vergangenheit. Im Corona-Sommer 2020 wurden die Aufnahmen nach über vierzig Jahren endlich komplettiert. Zeitlose Lieder, deren Wünsche noch immer nicht erfüllt sind. Mach' das beste daraus und play it in your stadyadium. Always im Namen der Menschlichkeit.
Sebastian Reier alias Booty Carrell, Feldafing. Frühjahr 2021