Maurice Summen
PayPalPop (Limitiertes Mint-farbenes Vinyl)
LP
VESCHOBEN AUF 28.05.2021
Gatefoldcover!
Auf 100 Stück limitierte mint-grüne Vinylversion.
VORSPANN:
Maurice
Summen,
Nov
10, 11:39 AM:
Just found this idea in my phone. I was thinking of
an electro-track… What I got in mind is some 80ies or 90ies
electro-stuff… Some references for the vibe:
Christoph Kreutzer: https://www.youtube.com/watch?v=Ul1-bNj7RUU
Elecktroids: https://www.youtube.com/watch?v=vDBUb6Rm_ts
DECKOS, Nov 10, 11:44 AM:
Okay thanks. What's the bpm?
Maurice
Summen,
Nov 10, 11:46 AM:
Maybe try 134bpm
DECKOS, Nov 10, 11:46 AM:
You don't know the bpm that you recorded?
Maurice Summen, Nov 10, 11:47 AM:
No! Its just a sketch from my iphone! Recorded without any raster!
DECKOS, Nov 10, 11:47 AM:
Okay
DECKOS delivered your order, Nov 11, 05:07 PM:
Here's
the file where you will find the stems and the exported track (also
instrumental)
Hope you really like it! if you need
anything please send me a message
thanks for the order:)
*I
made the sounds more melodic than those 80s - 90s songs and made some
trap drums to make it more modern!
***
Ein
kleiner Chat, für sich genommen schon große Kunst. Dazu ein
Gesangsschnipsel aus dem Smartphone: „Alte
Fotos, alte Fotos, alte Fotos – junge Menschen haben keine
[Repeat]“.
Kaum einen Tag dauerte es und DECKOS
lieferte die Bestellung. Und da stand er, der erste Song – und, in
a nutshell, Konzept
und Versuchsaufbau des jüngsten Albums von Maurice
Summen,
Staatsakt-Labelmacher
und Sänger/Songschreiber von Die
Türen
und einem sich weit verzweigenden Netz weiterer Projekte.
Es
heißt „PayPalPop“,
ist eine Art Corona-Album
(sic!),
sein erstes Solo-Album im Wortsinn und zugleich eines, das das
Prinzip des kooperativen Arbeitens wie kein anderes von der ersten
bis zur letzten Note in sich trägt. Denn es besteht ausschließlich
aus Stücken, die Summen bei einer Anzahl an Producer*innen
weltweit in Auftrag gegeben hat, von Menschen sounddesignt,
von denen er nie zuvor gehört hatte, einem Haufen Nicknames
in der weltweiten Cloud.
Was
war passiert?
Auf ausgedehnten Spaziergängen durch seinen Berliner Kiez während
des Lockdowns (auch ausgedehnte Touren durch das Internet zählen
dazu) sprach und summte Summen immer wieder Alltagsbeobachtungen,
Gedankenfetzen, kleine Melodien in sein Telefon hinein. Daraus wird
selten ein Album, schon gar nicht, wenn man, der Pandemie sei’s
geklagt, in die Isolation gezwungen ist, doch etwas blieb haften. Und
es gab, obschon keine Mitmusiker*innen zur Hand, zumindest freie
Zeit, und davon nicht zu knapp. Auch reizte ihn der Gedanke, sich
endlich einmal tiefer in die fremde und seltsame Sphäre des
Ghost-Producing,
der anonymen Kreativdienstleistungen der schönen neuen digitalen
Welt hineinzudrehen, man kann auch Plattform-Kapitalismus zu ihr
sagen. Hier unter besonderer Berücksichtigung von Musikproduktion –
man sieht das gleiche Prinzip überall dort, wo die alte, analoge
Wirklichkeit eine digitale Entsprechung programmiert bekommt.
Der
Versuchsaufbau:
Tausend Euro müssen alles in allem reichen und am Ende müsste ein
ganzes Album stehen, eines, das 1) ein Schlaglicht auf die
Produktionsbedingungen wirft, unter denen weltweit ein ganzes Heer
mehr oder weniger prekär lebender und arbeitender Produzent*innen
seine Services
feilbietet und dabei einen universellen Sound- und
Produktionszusammenhang schafft, der vor wenigen Jahren noch Material
für eine Folge Black
Mirror
abgegeben hätte (Globale Konkurrenz, totale Aufgabe jeder Idee von
Urheberschaft, Plattformen als Gatekeeper,
Rating-
respektive
Evaluierungsstrukturen inklusive, und, damit verbunden, die Hoffnung
auf Prestige und sozialen Aufstieg und auf der Kehrseite ihr fieser
Bruder, die Abstiegsangst etc., etc.).
Und 2) eines, das Bock
bringt, zu dem man Tanzen (oder zumindest grinsend den Kopf in alle
Richtungen schütteln) kann.
Um es vorweg zu nehmen: Es scheint
mir gelungen. Dank seiner Haltung. Denn mehr als alles andere ist
„PayPalPop“
eine Art PayPal-Punk:
Ein
trutziges DYI
2.0
– bei dem das Selbermachen zum Selbermachen-Lassen wird, wenn man
so will.
Traditionslinien?
Wahlverwandtschaften?
Gibt’s reichlich. Vom anarchisch-dadaistischen Pudelclub-Humor
in der Tradition Jacques
Palmingers
über Kunstbezüge (Auftragsmalerei im Sinne Martin
Kippenbergers
(offenliegend) oder Ólafur
Elíassons
(eher verbrämt (oder verchromt for
that matter,
haha))) zu DIPLO
(ist ebenfalls Viele) und KLF
(Alles von „3AM
Eternal“
über „The
Manual“
bis „Watch
the K Foundation burn a Million Quid“)
bis hin zu dem, was das Summen-Sound-System
schon immer appreciated
hat, P-Funk, New Wave, Postpunk, Tropical, Dub, Boogie-Rock und
vieles mehr. Wenngleich es unter der Ägide der globalen Gleichmacher
der Jetztzeit auf „PayPalPop“
kein Stück gibt, das nicht die Insignien der Gegenwart in sich
tragen würde: AutoTune
und
Trap-Ästhetik.
Ableton
Live
und ein Software-Sound,
der seit seinem ersten Auftritt auf der Weltbühne mit Cher
vor gut 20 Jahren und seiner Adaption durch T-Pain
wenige Jahre später (Summen wirft im Gespräch noch Daft
Punk feat. Romanthony
mit „One
More Time“ ein,
was ihn seinerzeit „wirklich
umgehauen“
habe (mir fällt aus Gründen „Around
The World“ ein.))
einen beispiellosen Siegeszug vom Berber-Folk
des Maghreb bis in die Metropolen aller Kontinente geführt hat.
Nicht wenigen gilt er als musikalischer Ausdruck der hässlichen
Fratze des globalen Kapitalismus, ich wäre mir da nicht so sicher.
Sicher
dagegen ist:
Ganz gleich, unter welcher Maßgabe Summen seine Skizzen in Auftrag
gegeben hat: „I
made it more melodic than those 80s - 90s songs and made some trap
drums to make it more modern!“
– siehe den obigen Chatverlauf. So oder so ähnlich muss man sich
jeden Dialog vorstellen, den er geführt hat, egal, ob er seinen Song
in Spanien bestellt hat („Alte
Fotos“),
in Russland („Gut
abgeliefert“,
„Love
Bomb“),
Kenia („Hey
Autos“),
Bangladesch („Früherwarichpunk“),
Kanada („Tote
Männer“),
Deutschland („Alles
tut so www“
feat. Girlwoman),
Südafrika („Besoffen
bei Discogs“)
oder in Jamaika („Link
in my bio“).
Man kann das produktives Missverständnis nennen, vielleicht auch
einen Glücksfall, in jedem Fall spricht es für sich schon Bände,
die nachfolgende Popkritiker*innen-Generationen werden schreiben
können, so es sie dann noch gibt.
Gerade „Link
in my bio“,
das letzte Stück des Albums, ist ein Paradebeispiel dafür, wie sehr
nicht zuletzt Signifikat und Signifikant eins werden in diesem großen
Hyperpop-Zeichensalat: „You
find my link in my bio, you find my bio in my link / You find my beat
in my lingo, you find my lingo in my beat“
reimt Summen in einer Art tolldreistem
Pidgin-English-Insta-Appropriation-Dub
und kommt doch damit durch. In ihrer multiplen Aneignung und
Transformation schwindet jede Idee einer authentischen Stimme - und
ihr Autor in der Tat hinterm Werk gleich mit. Dass das Album Maurice
Summen
überhaupt als Autoren setzt, ist so gesehen nur ein weiterer der
vielen (performativen) Selbstwidersprüche, die es auszuhalten gilt.
Sagte ich gerade letztes Stück? In der Tat. Schon durch. Wir
drücken auf Replay,
beginnen von vorne und hören fasziniert einem Album zu, das auf so
noch nicht dagewesene Art die Geschichte einer interessanten
Nivellierung, zugleich aber auch einer Frankensteinisierung von
Pop-Musik erzählt und daraus Kunst macht: Summen hat eine
vielköpfige Metapop-Hydra erschaffen, ein Monster, das allerdings
nicht aus Leichenteilen, sondern aus ziemlich lebendigem Fleisch
geschöpft ist. Dazu erzählt es die Geschichte einer Welt aus
Datenströmen, utopisch und dystopisch zugleich, einer Welt, die
Grenzenlosigkeit, Teilhabe und unendliche Demokratisierung
verspricht, und die doch von den alten Ungeistern besiedelt ist. Es
ist „die
Welt der Elon Musks und Jeff Bezos“,
wie Summen es nennt. Ja, das ist sie. Von den meisten Menschen wird
sie weiterhin im Untergeschoss bewohnt. Zurück bleibt ein Unbehagen,
zu dem man so gut Tanzen wie Weinen kann – aber vielleicht ist das
ja auch die einzig gültige Haltung zur Welt, die man überhaupt
einnehmen kann, ohne sich in affirmativer Selbstgewissheit mit ihr
gemein zu machen oder in haltloser Depression zu versinken.
Und
damit sind nur einige der Fährten angesprochen, die „Paypal
Pop“
in einer Art frei assoziierter Jonglage loser Enden legt… Bitte
vergeben Sie mir die vielen Klammern im Text, die mussten sein, sonst
würde ja das ganze Blut rausfließen bei all den offenen Stellen.
Platz
für eigene Gedanken: |
Letztes
Wort,
bevor ich es vergesse, von der Musik haben wir ja bislang kaum
gesprochen Sagte ich schon, dass das Album auch ziemlich viel Bock
bringt? Sound
libraries of the world – unite and take over... Auch
wenn die Bibliotheken derzeit nur ein einziges Buch anzubieten
scheinen, ist es doch eines mit sehr vielen Kapiteln, Illustrationen
und Seiten. Und Summen? Der ist schon immer eher bei Karl
Marx
und Heaven
17
als bei The
Smiths
gewesen. Und „PayPalPop“
vielleicht so etwas wie der Entwurf eines hochgradig formalisierten,
gegenwärtigen Free
Jazz ohne Jazz,
wenn das in seiner Widersprüchlichkeit Sinn ergibt – und es so
etwas wie Freiheit im Format geben kann.
(Markus
Göres)
***
Tracklisting:
01
- Alte Fotos
02
- Organic
03
- Tote Männer
04
- Alles tut www (feat Girlwoman)
05
- Alles tut www (Outro)
06
- Hey Autos!
07
- Früherwarichpunk
08
- Besoffen bei Discogs
09
- Black Friday
10
- Das Ladekabel
11
- Hinter der Bezahlschranke
12
– Autoresponder
14
- Love Bomb
***
Co-producing
credits:
All
songs produced by Maurice
Summen
and „Alte Fotos“ by Deckos
(Spain) / „Organic“
by Ignatdemarin
(Russia) / „Tote
Männer“ by Tha
Anarchyst (Canada) / „Alles
tut www (feat Girlwoman)“ by Ibo
Zervakis (Germany) / „Hey
Autos!“ by NZAUMUSIC
(Kenya), „Früherwarichpunk“
by Rhymecosta
(Bangladesh) / „Besoffen
bei Discogs“ by
Erictango (South Africa) „Black
Friday“ by Nzaumusic
(Kenya) / „Das
Ladekabel“ by Multimike
(UK) and
mixed by
Ignatdemarin (Russia) / „Hinter
der Bezahlschranke“ by Yann
Selka
(Israel)
/ „Autoresponder“
by Ignatdemarin
(Russia) / „Gut
abgeliefert“ by Salat
(Germany) and mixed by Ignatdemarin
(Russia) / „Love
Bomb“ by Ignatmarin
(Russia) / „Link
in my bio“ by Ascarmusic
(Jamaica)
Das Artwork besorgte Markus S Fiedler / Mastering: Gavin Weiss, Hamburg